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Ein Kaffee namens Beno – Warum wir mehr Begegnung brauchen

 

Heute kein Leitartikel. Kein Kommentar zur Weltlage, kein Rezept mit Tomaten. Heute: Kaffee. Und – nennen wir ihn Beno.

Beno ist jung, Generation Z, Ziel: Kriminalistik studieren. Und doch ist er gerade einer der besten Baristas der Stadt. Nicht weil er Latte Art kann. Nicht weil er den perfekten Milchschaum zaubert (obwohl, das kann er auch). Sondern weil er etwas viel Selteneres serviert: Aufmerksamkeit.

 

„Nur Crème wäre es dann bei dir, oder?“ – Dieser Satz traf mich wie ein Espresso-Shot. Die Betonung lag nicht auf Crème, sondern auf bei dir. Er erinnerte sich. An mich. An meinen Kaffee. Und an etwas, das viele da draussen vergessen haben: den Menschen auf der anderen Seite der Theke. Zu erwähnen ich stehe jetzt gerade mal in den letzten zehn Tagen erst zum zweiten Mal vor ihm und vorher noch nie.

 

Was für ihn ein Spiel ist – Kaffee erraten, Menschen lesen, Reaktionen beobachten – ist für mich viel mehr. Für mich ist es Kunst. Empathie. Gastronomie in ihrer schönsten Form: als Begegnung.

Und während ich da sitze, mit dem dampfenden Tasse vor mir und der kleinen Unterhaltung im Ohr, bin ich wacher als nach drei doppelten Ristretti. Nicht wegen des Koffeins. Sondern wegen der Erkenntnis: Vielleicht retten nicht die ganz Grossen die Menschlichkeit in der Gastronomie. Sondern die Jungen. Die, die nicht absitzen, sondern mitmachen. Die nicht bedienen, sondern berühren. Aber wie holen wir diese Menschen zurück und warum hat sich der Service verändert? Oder ist es der Gast?



 

Bevor Beno überhaupt geboren wurde, bevor ich überhaupt Espresso sagen konnte, war Kaffee… na ja, sagen wir mal: ein Ereignis. Nicht der to-go-Becher im Halbschlaf, nicht das Koffeinpflaster zwischen zwei Meetings. Sondern: ein Ort. Eine Haltung. Eine Gesellschaftsschicht.

 

Wien. Anfang 18. Jahrhundert. Die Osmanen hatten sich zwar verzogen, aber ein paar Säcke Bohnen blieben liegen. Und irgendjemand – vermutlich ein Genie oder ein Resteverwerter mit Mut – goss Wasser darüber. Der Rest ist Geschichte. Oder zumindest: Kaffeehauskultur.

 

In den Wiener Kaffeehäusern sass man nicht, man residierte. Der Kaffee wurde nicht getrunken, er wurde zelebriert. Und wer einen bestellte, kaufte nicht nur ein Heissgetränk – man kaufte Zeit. Zeit zum Nachdenken, zum Zeitunglesen, zum Reden, zum Nichts-Tun mit Stil. Der Kellner? Ein Monarch im Frack. Der Gast? Ein kleiner König mit melancholischem Blick. Und der Preis? Nun ja. Rechnet man die Teuerung mit, hätte man für eine Tasse damals ungefähr das hingelegt, was heute ein Business-Lunch samt Weinbegleitung kostet - genau gesagt CHF 42.60 - Es war das Gold aus der Tasse.  Aber das war es den Menschen wert. Denn Kaffee war kein Durstlöscher. Kaffee war eine Haltung.

 

Heute ist Kaffee oft: schnell, billig, mit allem. To-go, to-rush, to-hell. Ein Fingerzeig auf den QR-Code, ein Blick aufs Handy, ein Kaffee, den niemand beachtet – weder der Gast, noch der Gastgeber. Weder Beno noch ich wollen zurück in die Kaiserzeit. Aber so, wie es gerade läuft? Nein. Das ist es auch nicht. Es kann nicht die Zukunft sein, dass Baristas wie Fliessbandarbeiter funktionieren und Gäste wie Amazon-Kunden agieren.

Zum Glück gibt es Menschen. Menschen, die Geschichten schätzen. Menschen, die einen Namen merken. Menschen, die sehen, nicht nur servieren. Vielleicht – ganz vielleicht – überholen diese Menschen bald wieder jene, deren Respekt in ihrem eigenen Ego verdampft ist. Jene, die Luxus nur in Lederpolstern und Loungemusik messen. Denn, Hand aufs Herz: Was ist schon Luxus? Ein Macchiato mit Blattgold? Oder ein stiller Moment mit einem Kaffee – und jemandem, der wirklich da ist?



 

Bevor das Leben stillstand – so seltsam schnell, dass man fast den Halt verlor – war Kaffee selten steril. Und selten allein. Er war warm. In Tasse und Herz. Es war eine Zeit, in der man sich noch ohne schlechtes Gewissen umarmen durfte, ohne Plexiglas lachte und nicht bei jeder Berührung ans Desinfizieren dachte. Doch, Hand aufs Herz, die Entfremdung begann nicht erst mit Masken und Abstand. Schon vorher haben wir uns Stück für Stück verloren. Früher – und ich meine nicht „Gestern“, sondern eher „früherer früher“ – war Nähe fast unvermeidlich. Man traf sich beim Dorfbrunnen zum Wäschewaschen. Kochte Wasser gemeinsam auf offenem Feuer. Backte aus der Restwärme gleich noch Brot für alle. Nicht aus Romantik, sondern aus Pragmatismus. Und ja – aus Gemeinschaft.

 

Die Post war noch nicht digital, sondern ein Ort. Da, wo das Paket nicht in den Briefkasten passte, aber das Gespräch ins Herz. Zwischen Einkaufen und Eintopf traf man sich im Café – nein, im Dorfkaffee – mit jenen, die nur kurz aus der Werkstatt kamen. Oder mit jenen, die einfach ein Gesicht suchten, statt nur einen Bildschirm.

Wollen wir dahin zurück? Ganz sicher nicht. Niemand möchte den Nachmittagsverkehr im Briefträgerstil per Velo machen oder am Brunnen frieren. Aber was wir kompensieren müssen, ist: die Zeit. Die Gespräche. Die ungeplanten Begegnungen.

 

Wenn die Post im Dorf schliesst, dürfen wir nicht auch noch den Gedanken daran schliessen. Wenn durch Veränderung Distanz entsteht, müssen wir Bühnen schaffen, auf denen Nähe wieder möglich ist.

Denn wenn wir wissen, wer der andere ist, wenn wir begegnen, nicht nur „erledigen“, dann geht das Miteinander viel leichter. Weshalb, glaubst du, bauen Architekten bei neuen Siedlungen plötzlich wieder zentrale Briefkästen - sogar in separat dafür geplanten Räumen -  und Gemeinschaftsräume ein? Wohl kaum wegen der Paketbenachrichtigungen. Sondern weil selbst Planer merken: Ohne Begegnung kein Wir.

Und was hat das mit Beno zu tun? Mit Kaffee vielleicht weniger. Aber mit dem, was beim Kaffee entsteht. Nähe. Geschichten. Erinnerung. Und das Gefühl: Ich bin nicht allein im Alltag. Sondern mittendrin im Leben.



Je länger ich über Beno und diesen Kaffee nachdenke, desto klarer wird: Es geht nicht um die Bohne. Nicht mal um die Milch – ob Hafer, Kuh oder „nur Crème“. Es geht nicht um Koffein, sondern um Aufmerksamkeit. Um Begegnung. Um Respekt.

 

Wir sprechen von Klimaerwärmung, Biodiversität, „Safe the World“ – und klopfen uns stolz auf die Schulter, weil wir im Supermarkt zur Bio-Hafermilch greifen. Bravo! Aber dieselbe Hafermilch kippen wir dann – achtlos – in einen Pappbecher, den wir beim Davonlaufen trinken. Nachhaltig allein in der Hektik. Gemeinsam mit der Weltrettung verschüttet. Warum, frage ich mich, fliegt gerade der Kaffee so unter dem Radar der grossen Weltbewegung? Warum steht er nicht längst auf der Liste der Dinge, die wir neu denken müssten? Nicht wegen der Herkunft. Nicht wegen des CO₂-Fussabdrucks. Sondern wegen des Moments, den er eigentlich bedeutet.

 

Denn ehrlich – retten wir mit „kein Kaffee mehr trinken“ die Welt? Nein. Aber mit einem bewussten Kaffee? Vielleicht ein Stück weit unsere Beziehungen. Unsere Aufmerksamkeit. Unser Miteinander. Warum setzen wir uns nicht öfter einfach mit einem Glas Wasser zusammen? Gut – diese Frage stelle ich sicher nicht einem Walliser oder einem aus der Westschweiz, das wäre dann doch zu radikal. Aber vielleicht einigten wir uns auf den Kaffee als Kompromiss zwischen Wasser und Wein. Als Ritual der Nähe.

 

Denn es ist ja nicht der Kaffee, der fehlt. Sondern das „Dazwischen“. Das Sitzenbleiben. Das Zuhören. Das Nicht-Wischen. Wir werden den Personalmangel in der Gastronomie nicht mit Latte Art lösen. Aber vielleicht mit Menschen wie Beno, die zeigen: Service ist mehr als servieren. Und vielleicht – wenn wir alle ein bisschen mehr hingehen, hinsehen und hinsitzen – finden wir zurück zu einem Ort, wo nicht nur Tische stehen, sondern Herzen offen sind. Was müsste passieren, damit wir wieder ins Kaffee gehen – nicht wegen des Koffeins, sondern wegen Beno und schlussendlich wegen Gesprächen?



Ich habe mich definitiv entschieden: Es braucht mehr Benos. Denn mit seiner Aufmerksamkeit heute Morgen hat er mir nicht einfach nur den Tag gerettet. Nein – er hat mich inspiriert. Zum Schreiben. Zum Nachdenken. Zum Lächeln. Er hat gezeigt, dass Haltung nicht einfach nur im Rücken spürbar ist, sondern in der Seele. Und dass echte Aufmerksamkeit – diese stille, warme, ehrliche Aufmerksamkeit – zu Gesprächen führt. Und Gespräche führen zu Gemeinschaft.

 

Aber bevor jetzt alle losziehen und Barista werden wollen: Nein, es braucht nicht nur mehr Benos hinter der Kaffeemaschine. Es braucht auch Menschen vor Beno. Menschen mit einem Lächeln. Mit einem „Danke“. Mit einem Blick, der sagt: „Ich sehe dich.“ Und vielleicht sogar mit einer Nachfrage: „Und – wie geht’s dir heute eigentlich?“ es braucht einfach auch Dich.

 

Es braucht Orte, an denen Kaffee nicht nur flüssig, sondern bedeutend ist. Es braucht Bühnen auf welchen wir uns begegnen und auf welchen "wir" sein dürfen. Orte, an denen wir teilen, nicht nur trinken. Und ja, es braucht auch die Zeit dafür. Aha – und jetzt kommst du. Mit dem Argument aller Argumente: „Aber ich habe keine Zeit.“ Falsch. Du hast sie. Du benutzt sie nur... anders. Du zählst Schritte? 10'000 am Tag? Bravo. Aber was, wenn du heute mal die Bildschirmzeit zählen würdest? Die im Netz. Die beim Scrollen, Tippen, Wegwischen. Und dann vergleichst du sie mit deiner Sprechzeit. Mit echten Gesprächen. Mit Zuhören. Mit „Wie war dein Tag?“

 

Vielleicht, ganz vielleicht, müssten wir die Onlinezeit unserer Kinder nicht einfach beschränken, sondern verknüpfen. Mit Redezeit. Mit echtem sprachlichen Austausch. Mit Mama und Papa. Und wenn wir Glück haben – ja, wenn wir es richtig machen – dann werden unsere Kinder später nicht nur gescheit, sondern auch zugewandt. Dann werden sie zuhören können. Geschichten erzählen wollen. Und sie werden – mit einem Lächeln – vielleicht selbst einmal hinter der Kaffeemaschine stehen. Und wer weiss: Vielleicht wirst du dann eines Morgens von einem neuen Beno begrüsst – und dein Tag beginnt nicht mit Koffein, sondern mit Verbindung.

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